
Korczaks Pädagogik der Achtung
Janusz Korczaks Pädagogik der Achtung: Eine Revolution für die Kinderrechte
Stell dir vor, du könntest als Kind deine Lehrer oder sogar den Leiter deines Heims vor ein Gericht bringen, das von Kindern geführt wird. Was heute utopisch klingt, war im Warschau des frühen 20. Jahrhunderts Realität – dank eines Mannes, der als einer der größten Helden der Pädagogik in die Geschichte einging, obwohl er nie Pädagogik studierte: Janusz Korczak.
Sein Ansatz, bekannt als die Pädagogik der Achtung, stellte alles auf den Kopf, was man damals über Erziehung zu wissen glaubte. In einer Zeit, in der Kinder als unfertige, zu formende Wesen galten, die zu gehorchen hatten (Stichwort: „Schwarze Pädagogik“), formulierte Korczak einen revolutionären Satz, der bis heute nachhallt:
„Kinder werden nicht erst zu Menschen – sie sind bereits welche!“
Dieser Leitsatz ist das Fundament seiner gesamten Arbeit und verändert die grundlegende Frage, die wir an ein Kind stellen. Statt zu fragen: „Wie ist das Kind?“ (also: Wie müssen wir es formen?), fragte Korczak: „Wer ist das Kind?“ (also: Welche Persönlichkeit, welche Bedürfnisse und Stärken stecken bereits in ihm?).
Die Kinderrepublik: Selbstverwaltung im Waisenhaus „Dom Sierot“
Janusz Korczak (bürgerlich Henryk Goldszmit) war ein polnisch-jüdischer Kinderarzt, der 1912 seine erfolgreiche Praxis aufgab, um 30 Jahre lang das Waisenhaus „Dom Sierot“ (Haus der Waisen) in Warschau zu leiten. Inmitten von Krieg, Armut und dem aufkommenden Nationalsozialismus schuf er einen Ort, der demokratischer war als viele heutige Institutionen: eine Kinderrepublik.
Das Herzstück dieser Republik war das Prinzip der Selbstverwaltung. Korczak war überzeugt, dass Kinder am besten lernen, Verantwortung zu übernehmen, indem sie diese tatsächlich bekommen. Deshalb schuf er Institutionen, die von den Kindern selbst geführt wurden:
-
Das Kinderparlament: Hier wurden Regeln für das Zusammenleben diskutiert und beschlossen. Jedes Kind hatte eine Stimme.
-
Die Wandzeitung: Eine Art frühes soziales Netzwerk, gestaltet von Kindern für Kinder, in dem Neuigkeiten, aber auch Kritik und Lob Platz fanden.
-
Das Kameradschaftsgericht: Die wohl radikalste Idee. Ein von Kindern gewähltes Gericht, das über Konflikte und Regelverstöße urteilte – sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen.
Korczak selbst stellte sich fünfmal vor dieses Gericht, unter anderem, weil er einem Kind eine Ohrfeige gegeben hatte. Das Urteil der Kinder lautete: Schuldspruch mit Vergebung. Dahinter stand seine Überzeugung, dass Verzeihen eine größere pädagogische Kraft hat als Strafen. Das Gesetzbuch des Gerichts umfasste 1000 Paragrafen, von denen die ersten 99 verschiedene Formen des Freispruchs waren.
Die drei Grundrechte des Kindes
Lange vor der UN-Kinderrechtskonvention formulierte Korczak drei fundamentale Rechte, die jedem Kind zustehen. Sie sind das Kernstück seiner Pädagogik der Achtung.
-
Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag
Kinder leben im Hier und Jetzt. Ihre Gegenwart darf nicht nur als Vorbereitung auf die Zukunft geopfert werden. Korczak kritisierte die Haltung „Aus dir wird mal was“ und setzte stattdessen auf die Botschaft: „Du BIST schon was!“ Jedes Kind hat das Recht, seine Kindheit heute zu erleben und nicht nur auf ein zukünftiges Leben als Erwachsener trainiert zu werden.
-
Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist
Jedes Kind ist eine eigenständige Persönlichkeit mit individuellen Gefühlen, Gedanken und Eigenheiten. Es ist ein radikaler Bruch mit der Idee, Kinder nach einer bestimmten Norm formen zu wollen. Anstatt zu sagen „Du sollst so werden wie...“, lautet Korczaks Botschaft: „Du bist genau richtig, so wie du bist!“ Erziehung bedeutet hier, das Kind in seiner Einzigartigkeit zu erkennen und zu respektieren.
-
Das Recht des Kindes auf den eigenen Tod
Dieser Punkt klingt zunächst schockierend, ist aber tiefgründig und heute relevanter denn je. Korczak meinte damit nicht das Recht auf Selbstmord, sondern das Recht, Wagnisse einzugehen, Fehler zu machen und aus eigenen Erfahrungen zu lernen. Ein Kind, das vor allen Gefahren beschützt wird, lernt nicht, mit Risiken umzugehen. Korczak formulierte es eindringlich:
„Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entreißen wir das Kind dem Leben!“
Es ist ein Plädoyer gegen überbehütende „Helikoptereltern“ und für eine Erziehung, die Kindern erlaubt, hinzufallen, wieder aufzustehen und daran zu wachsen.
Vermächtnis und tragisches Ende
Korczaks Geschichte endet tragisch. 1940 wurde sein Waisenhaus ins Warschauer Ghetto gezwungen. Am 5. August 1942, am Tag der Deportation in das Vernichtungslager Treblinka, hatte Korczak die Möglichkeit zur Flucht. Doch er lehnte ab mit den Worten: „Man verlässt ein krankes Kind nicht in der Nacht, und man verlässt Kinder nicht in einer Zeit wie dieser.“
Er marschierte an der Spitze seiner 200 Kinder zum Zug, die grüne Fahne seiner Kinderrepublik in der Hand. Er blieb bei ihnen bis zum Schluss.
Fazit: Warum Korczak heute noch wichtig ist
Janusz Korczaks Pädagogik der Achtung ist mehr als eine historische Theorie. Sie ist eine Haltung. Er hat uns gezeigt, dass eine dialogische Beziehung auf Augenhöhe die Grundlage jeder guten Erziehung ist. Das Kind ist kein Objekt, das geformt wird, sondern ein Subjekt der Begegnung, dem mit Respekt, Würde und Vertrauen begegnet werden muss.
Wenn ein Kind heute widerspricht, Fragen stellt oder eine eigene Meinung vertritt, erinnert uns Korczak daran: Das ist kein Akt des Ungehorsams, sondern ein Zeichen dafür, dass hier ein Mensch mit eigenen Rechten, Träumen und einem eigenen Wert heranwächst.